Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Musik des Mittelalters |
Tinctoris - flämischer Komponist und Musiktheoretiker der Renaissance. |
Wenn wir uns heute mit den Überlieferungstraditionen der
mittelalterlichen Musik befassen, stellen wir fest, daß die Überlieferungsmöglichkeiten
unserer Zeit mit denen des Mittelalters wenige Parallelen aufweisen. Wir sind
es gewohnt, daß Noten die unmittelbare Möglichkeit eines Komponisten
sind, die Musik dem Interpreten vorzuschreiben, was für das Mittelalter
nicht zutrifft. So stehen wir heute vor der Frage, wie es damals gelungen
ist, viele hundert Melodien mit teilweise sehr komplexen Tonabfolgen über
einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten fast fehlerfrei zu überliefern.
Die ersten Melodieaufzeichnungen findet man in den Neumen (griechisch: Wink,
Hand ), durch deren Namen man schon auf deren Entstehung schließen kann:
Es mag sich um Handzeichen der Kantoren handeln, die quasi als "Gedächtnisstütze"
über oder unter einen liturgischen Text geschrieben worden sind, um das
Singen desselben zu erleichtern.
Die Entstehung der Neumen selbst gibt also einen Hinweis darauf, daß
es vorher schon eine mündliche Überlieferungstradition gab, die
zuerst nur durch die Schrift unterstützt wurde, bis diese sie durch einen
langen Prozess bis heute nahezu ersetzt hat.
Hinweise auf eine mündliche Überlieferungstradition
Der erste rein logische Hinweis auf eine mündliche Überlieferungstradition
ist die Tatsache, daß die Entstehung einer Notenschrift etwas Aufzuschreibendes,
also Musik, überhaupt vorhanden ist, ja sogar so weit, daß Menschen
es für notwendig hielten, sie zu überliefern, selbst wenn das eigene
Gedächtnis nicht ausreichte, sich die Einzelheiten und Feinheiten zu
merken. Desweiteren existierten schon vor den Neumen Handschriften mit Texten,
die "Bücher der musikalischen Kunst" genannt wurden, was beweist,
daß es zu den Texten auch eine Melodieüberlieferung gegeben haben
muß, da sonst der Titel keinerlei Berechtigung hätte.
Die Genauigkeit der mündlichen Überlieferungstradition ist ein Beleg
dafür, wie gut sie funktioniert hat und daß sie existiert hat:
Vergleicht man die frühesten schriftlichen Quellen miteinander, stellt
man eine sehr hohe Übereinstimmung der Melodien fest, obwohl die Quellen
regional unterschiedlicher Herkunft sind und in verschiedenen Neumenschriften
aufgezeichnet sind. Es muß sich also eine stabile Form des liturgischen
Gesanges verbreitet haben, bevor dieser aufgezeichnet wurde. Außerdem
gibt es Schriftquellen, die verschiedene Tatsachen der mündlichen Überlieferungstraditionen
beschreiben, zum Teil recht anschauliche Berichte von Mönchen, die unter
den Lernprinzipien der Überlieferung zu leiden hatten.
Beispiele für regional verschiedene Neumennotationen
Aurelian Von Reome (Vor 850 - 877) schreibt: "Cantor ist nur, wer alle
Psalmen in acht Modi auswendig weis und alle Unterschiede der Modi, Verse
der Antiphonen, Introitus und der Responsorien eingeprägt hat. Musik
bleibt nur erhalten, wenn sie fest im Gedächtnis gespeichert ist."
Damit hat er dargelegt, mit welcher Erwartungshaltung an den Cantor herangetreten
worden ist. Obwohl zu seiner Zeit schon Neumen im Gebrauch waren ist unbekannt,
ob er von Ihnen Gebrauch gemacht hat und ob er sie überhaupt gekannt
hat.
In späteren Notenquellen findet man sogar Randbemerkungen, die belegen,
daß die Neumen die mündliche Überlieferungstradition nicht
einfach auswechselten, sondern beide Überlieferungsmöglichkeiten
lange Zeit einander ergänzten: Neben Neumenzeilen fanden sich Einträge
wie zum Beispiel: "Nach bekannter Melodie zu singen" was Andreas
Haug genauer untersucht hat.
In Rom selbst ist die rein mündliche Überlieferung bis in noch weit
spätere Zeit belegt, da die ersten römischen Aufzeichnungen in ein
vorhandenes, mit der Zeit gewachsenes Notationssystem niedergeschrieben worden
sind, was zu einigen Fehlern führte; weil die römischen Schreiber
keinerlei Erfahrung mit Notenschriften gemacht hatten fingen einige Gesänge
auf falschen Tönen an, wodurch sich sämtliche Tonschritte verschoben.
Vorher ist immer nur von einer lebendigen römischen Sangestradition zu
lesen.
Probleme der Mündlichen Überlieferung
Stellt man sich heute vor, man solle sich sämtliches gebräuchliches Liedgut merken, wird es einem schwer fallen, weil wir uns von der Schrift im zunehmendem Maße abhängig gemacht haben. Die Vorstellung, sich aberhunderte zum Teil nur im Detail unterschiedliche Gesänge zu merken, die oftmals nur ein einziges mal im Kirchenjahr gesungen werden, fällt uns nicht weniger leicht. Es gibt zwei Thesen, die versuchen, diese ungeheure Gedächtnisleistung zu erklären: Zum einen kann man davon ausgehen, daß Texte und Melodien stur auswendig gelernt worden sind und sich über Jahre und Jahrzehnte die Melodien einprägten. Dieses belegen verschiedene Schriftquellen des Mittelalters. So besagt eine Aufzeichnung des 9. Jhdt.s: "Die meisten haben von frühester Jugend bis ins hohe Alter alle Tage für die Vorbereitung und Bewältigung des Kirchengesanges verwendet." Der irische Mönch Beda (674 - 753) beschrieb zu Lebzeiten die "viva voce" Methode. "dem Schüler wird die Melodie vorgesungen bis der Lehrer in Schweiß gerät, irgendwann wirkt der heilige Geist."
Die andere und zweifellos elegantere Methode beschränkt
sich auf das lernen von Prinzipien. Da die Melodie stets eine enge Verbindung
zum Text aufweist, ist anzunehmen, daß der Text selbst die Grundlage
dieser Vortragsmethode ist. Die Prinzipien sind nun so genau an den Text anzulehnen,
daß es nunmehr nur noch eine Möglichkeit gibt, die Melodie zu interpretieren.
Der Effekt für den Zuhörer ist der gleiche, als hätte der Kantor
die Melodie auswendig gelernt, so wenig dürften sich die einzelnen Vorträge
voneinander unterschieden haben. Dieses zeigt, daß der negativ besetzte
Begriff der Improvisation der Unbeständigkeit und Zufälligkeit impliziert
in der frühen Musik keineswegs so zu deuten ist. Zu erwähnen währe
allerdings, daß die Prinzipien so eng und kompliziert gestrickt waren,
daß sich deren Anwendung vielen entzog und so doch nur der Weg des Auswendiglernens
zur Bewältigung des Repertoires blieb. In der Praxis dürften sich
die beiden Vorgehensweisen miteinander vermischt haben, da sich gerade bei
viel gesungenen Melodien der Ablauf immer mehr einschleifen mußte so
daß man auf das Schema nicht mehr zu achten brauchte.
Aus heutiger Sichtweise zu behaupten, daß eine mündliche Überlieferungstradition
weniger Bestand habe als unsere heutige schriftliche Überlieferungstechnik
Währe ein vorschnelles Urteil. Zwar ist eine Schriftliche Überlieferungstradition
in der Lage, eine weit größere Menge an Melodien und Texten zu
fassen, als ein menschliches Gehirn vermag, jedoch hängt deren Beständigkeit
und Verläßlichkeit immer an den jeweiligen Wertvorstellungen der
Überliefernden Personen. So ist Schrift kein Garant für Verläßlichkeit,
ebenso wie Improvisation und mündliche Überlieferung Unbeständigkeit
implizieren.
Traditionen der Instrumentalmusik
Obwohl sich zu Überlieferungstraditionen der frühen
Vokalmusik einiges herausfinden läßt, steht die Überlieferung
der Instrumentalmusik weitestgehend im Dunkeln. Durch Abbildungen und Berichte
weis man von einer weit verbreiteten Spielmannskultur und einem weit gefächertem
Instrumentarium, welches das heutige bei weitem übersteigt, doch sind
Aufzeichnungen von Noten oder anderen Notationsmöglichkeiten vor 1500
eine Seltenheit und vor dem 14. Jhdt. gar nicht zu finden. Man darf also zu
Recht davon ausgehen, daß es auch hier eine weit verbreitete mündliche
Überlieferungstradition gegeben hat, die relativ spät niedergeschrieben
wurde.
Literaturhinweise
New Grove Dictionary of music and musicians Band 19, 1980; Treitler, Leo (Paula Morgan und F.E. Sparshott) Hrsg. Stanley Sadie.
Neues Handbuch der Musikwissenschaft 2 1991;( Leo Treitler) Mündliche und schriftliche Überlieferung: Anfänge der musikalischen Notation.
Mönche, Bürger, Minnesänger; Peter Gülke
1975 Der einstimmige Gesang der Kirche.